In welchem Alter wird man weise?

Vor einiger Zeit hatte ich ein Gespräch mit einem jungen Menschen, der um meinen 74. Geburtstag herum diese Aussage machte: „In ihrem Alter und mit ihren Erfahrungen haben sie doch jetzt bestimmt viel Weisheit…“ Dazu war mein Kommentar, dass meiner Auffassung nach weder Ausbildung noch Erfahrungen oder schon gar nicht Lebensjahre an sich entscheiden, ob ein Mensch im Alter in mehr Weisheit lebt…

Das ist für mich auch dann so, wenn jemand sagt: „aber das mache ich doch schon 25 Jahre und habe viel Erfahrung…“. Es kann genauso gut sein, dass jemand 25 Jahre Erfahrung gesammelt hat, wie man es nicht machen sollte. Mit dieser Einstellung kann man auch sehr schnell bei einem Stillstand ankommen, ohne noch etwas Neues zu lernen und zu erfahren.  Außerdem gibt es viele Situationen, bei denen es gar nicht um Weisheit geht, sondern vielleicht ja auch um Kultur, Geschmacksache oder bestimmte Vorgehensweisen.

Johannes Tamme mit seiner Frau Brigitte. Foto: J. Tamme

Nudeln schlürfen

Ich würde zum Beispiel nie auf die Idee kommen beim Essen einer Suppe mit langen Nudeln genüsslich und vernehmlich die Nudeln schlürfend aufzusaugen. Ich sehe gerne Berichte aus fernen Ländern und anderen Kulturen. Dort habe bei einem Reisebericht aus Japan gelernt, dass es zum guten Ton gehört, beim Essen einer Ramen-Suppe genüsslich die Nudeln zu schlürfen, wenn es gut schmeckt… Es würde im Restaurant oder bei Freunden eher als negativ empfunden werden, wenn man nicht laut und genüsslich die Nudeln schlürft. Meine Erziehung und Kultur sagen mir: das macht man nicht. Wäre man aber in Japan aufgewachsen, würde ein alter, weiser Mann schlürfen…

Ich habe dem jungen Mann dann gesagt, welche „Weisheiten“ ich für mich nach 70 Jahren plus beobachtet, und als richtig festgelegt habe:
Das Gesetz von Saat und Ernte funktioniert in allen Bereichen des Lebens. Ich kann nicht Tomatensamen pflanzen und Karotten ernten wollen. Ich kann nicht negatives reden und dauernd an allem herummeckern, aber Freude und Gelassenheit ernten wollen. Man kann nicht erwarten Freunde zu haben, wenn man selbst kein Freund ist, usw.

Meine Worte sind meine ausgesprochenen Gedanken. Mein Leben bewegt sich unweigerlich in die Richtung meiner vornehmlichen Gedanken. Ich kann also mit negativen Gedanken und negativem Reden keine positiven Ergebnisse erwarten. Ich bekomme in meinem Leben nicht, was ich will, sondern was ich erwarte. Deshalb freuen sich negative Menschen, wenn etwas Schlechtes passiert, weil es Ihnen dann Recht gibt.

Face-Time: Brigitte Tamme (re.) mit Ihrer Mutter. Foto: B. Tamme

Man erntet, was man sät

Ein Mensch, an dem ich sehen kann, wie diese Einstellung zu welchen Ergebnissen im Leben führen ist meine Schwiegermutter. Meine Schwiegermutter ist in diesem Monat 92 Jahre alt geworden. Ihre Schule im damaligen Sudetenland wurde im Krieg geschlossen, sodass sie nur eine Bildung bis zur fünften Klasse erhalten hat. Mit 14 wurde sie mit ihrer Mutter in einem Viehwagen zwangsweise in die damaligen Westzonen transportiert. Mit meinem Schwiegervater, der vor vier Jahren verstorben ist, haben sie sich ab 1955 in den USA eine neue Existenz aufgebaut.

Sie hat versucht ihr Leben nach den aufgeführten drei Punkten zu leben. Heute mit 92 lebt sie super rüstig in ihrem Haus in Pennsylvania und macht noch alles im Haushalt selbst. Ihr I-Pad ist ihre große Freude, damit kann sie u.a. mit ihren Neffen und Nichten in Deutschland Kontakt halten. Ihr schönes Auto hat sie verschenkt, weil sie freiwillig das Fahren aufgegeben hat. Aber sie hat so viele Menschen in ihrem Leben die sich um sie kümmern und ihr alles abnehmen was körperlich zu schwer geworden ist, vom Rasen mähen zum Schnee räumen…

Saat und Ernte – fröhliche Ausstrahlung und trotz des Erlebten hat sie nie die positive Grundeinstellung und Erwartung aufgegeben. Und „last but not least“: ich bin lange und glücklich verheiratet und meine Schwiegermutter kenne ich nur als grundsätzlich immer dankbaren Menschen. Ich sage Männern manchmal scherzhaft: Jeder hat die Schwiegermutter, die er verdient.

Aber vielleicht, vielleicht ist da auch ein Fünkchen Wahrheit enthalten…

Johannes Tamme
Geschäftsführer Hilfe Daheim

Nicole Gatz
Pflegedienstleitung bei Hilfe Daheim